Die Entscheidung fiel mir nicht leicht: Entweder zusammen mit den anderen des Teams am 29.04. zur Tour d‘Energie nach Göttingen oder am 25.04. nach Hamburg zur Hansegravel, einem 600 km langen Querfeldeinrennen im Selbstversorgermodus. Mein Herz riet mir zu Letzterem und nachdem mir der Teamchef das ok gab, reise ich mit zwei anderen Bremer Teilnehmern am 25.04. an die Elbe. Mit im Zug haben wir unsere Gravelbikes. Das sind rennradverwandte Räder mit 40-50 mm breiten, in der Regel stollenbewährten Reifen und mountainbikeähnlichen Übersetzungen. Das auffälligste Merkmal ist jedoch, dass die Räder über und über mit Taschen besetzt sind: an der Gabel, im Rahmendreieck, am Sattel und am Oberrohr. Besonders groß ist keine davon und an Inhalt finden sich Dinge, die man zum Überleben in der Wildnis braucht – eine Schlafstätte, eine Küche, Werkzeug, Proviant. Es ist kein klassischer Radausflug mit Ortlieb Taschen, sondern Bike Packing mit minimalistischer Ausrüstung. Man sieht derlei ausgerüstete Räder nur äußerst selten, aber als wir am Entenwerder an der Elbe ankommen ist alles regelrecht voll davon. Schnell fällt mir auf, dass die meisten der 200 Starter viel weniger Taschen an ihren Rigs haben als ich. Hab ich zu viel mitgenommen? Definitiv, aber ich bin eben neu in der Szene und wollte auf Nummer sicher gehen.

 

Wir quatschen ein bisschen mit den anderen Teilnehmern, aber es sind Fremde und die Gespräche sind oberflächlich. Réné Fischer, der die erstmalig stattfindende Hansegravel im Alleingang organisiert hat, hält um 10 Uhr eine kleine Ansprache und dann rollen wir los. Die von mir befürchtete 200-Mann-Gruppe, die auf kleinen Pfaden durch Hamburg rollt, findet gar nicht statt. Alle sind entspannt, mit ca. 10 Mann bestreiten wir den ersten Kilometer, darunter die drei Bremer, bis ich über eine orangene Ampel fahre, an der die anderen stehen bleiben. Die holen mich gleich wieder ein, denke ich und fahre gemütlich weiter. Ich sollte sie aber erst wieder in dem 600 km entfernten Stettin treffen.

Die Alster geht es entlang. Vor mir fährt ein Teilnehmer, er findet den Track so sicher, dass ich ihn als Hase und Richtungsweiser benutze - so muss ich nicht ständig auf meinen Wahoo schauen und er fährt ein zügiges Tempo, bei dem ich mich wohl fühle. Nicht viel später überholt mich ein Fahrer, schließt zu meinem Vordermann auf und unterhält sich ausgiebig mit ihm. Die beiden erhöhen das Tempo, sodass ich, als ich zum Pinkeln stehen bleibe, abgehängt werde. Ich trete allein weiter. Nach ca. 60 Kilometern überholt mich eine Dreiergruppe, an die ich mich ranhänge. Die Gruppe hat gut Druck auf dem Pedal und ich bin unsicher, ob ich das lange werde durchhalten können. Aber an einem nächsten sehr steilen Anstieg zersplittert die Gruppe und übrig bleiben nur ein Typ namens Lukas und ich. Wir rollen unbeirrt weiter. Irgendwann frage ich Lukas, ob er schon Mal einen Gravelride gemacht habe und wie viel er sich für heute vorgenommen habe. Wie ich macht er das auch zum ersten Mal und er wolle einfach sehen, wie weit er komme. Bis zum Umfallen also. Ich sage, dass ich ihn bis zu meinem Tagesziel von 200 begleiten würde.

Wir radeln durch Wälder, alte Ackerwege, Pferdetrails, Schotterpisten und Sandwege - so gut wie kein Asphalt. Es ist herrlich, die Sonne strahlt bei 23 Grad und da wir abwegig unterwegs sind, treffen wir auf so gut wie keine Autos. Wir überholen mehr und mehr Fahrer. Viele waren aufgrund einer leicht hysterischen Diskussion auf Facebook schon vorab gestartet. Was in Ordnung geht, da es offiziell kein Rennen ist, sondern ITT (individual time trial). Wir holen ein Tandem ein, auf dem ein gutgelauntes Pärchen sitzt und mit der Kraft der 4 Beine tüchtig reintritt. Mit denen und zwei weiteren Fahrern geht es bis nach Lübeck, wo wir in einen Bus steigen, um unter der Trave hindurch zu fahren. Und es geht immer weiter. Wir halten hin und wieder für Bananen, ne Flasche Cola und zum Auffüllen der Wasservorräte. Lukas und ich fangen an, in Gespräche über unsere Arbeit einzusteigen. Es ist interessant und wir plaudern ewig, die Stunden und die Kilometer fliegen dahin.
Dann, in einem unachtsamen Moment fährt Lukas über einen großen Stein, der seinen tubeless Panaracer seitlich aufschlitzt. Ich und der seit Lübeck mit uns fahrende Christian bleiben stehen, um ihm zu helfen. Es ist eine Fummelei, aber wir schaffen es. Christian war zwischendurch weitergefahren, um im nächsten Ort Abendbrot zu sich zu nehmen, aber kaum ein paar Kilometer nach der Panne gabeln wir ihn wieder auf - diesmal hat er den Plattfuß.

Als wir Wismar durchqueren steht die Sonne schon tief. Wir proviantieren nochmals und essen etwas. Und machen Pläne. Bei km 270 soll es ein paar Schutzhütten im Wald geben. Dort könnten wir übernachten und tags darauf weiterfahren. Ich weiß nicht, ob ich das schaffen werde, aber wir fahren erstmal weiter. Wir holen weitere Teilnehmer ein und werden vor Rostock sogar selbst eingeholt. Es ist Réné Fischer, der Organisator. Er war als letzter gestartet, ist mit einem langsamen Freund gefahren, bis er sich entschloss, im eigenen Tempo weiterzumachen. Er hat quasi im Alleingang das komplette Feld aufgefahren und das mit einem Singlespeed - Maschine!

Bei Kilometer 200 klatschen wir ab, laden den nächsten 200km-Streckenabschnitt und fahren weiter. Meine längste jemals gefahrene Strecke liegt bei 216 km. Die könnte ich ja überbieten, denke ich. Um 21 Uhr entschließe ich mich, noch bis 22 Uhr zu fahren, dann bis 23 Uhr. Wir durchqueren Rostock im Dunkeln. Machen an einer Disko Halt, bei der wir die Flaschen nochmals mit Wasser auffüllen. Nach Mitternacht schwächelt dann endlich mein Wille. Mitten im dunklen Wald, wir sind mittlerweile wieder zu viert und können das Rücklicht des Führenden sehen: Thomas aus Berlin, der mich am Anfang, als ich pinkelte, zusammen mit dem anderen stehen ließ. Der andere von den beiden, Olaf aus München und mein Tagesfreund Lukas sind noch heiß und wollen weiter. Réné und ich dagegen legen uns hin, er in seinem Biwak, ich in meinem Zelt. Zuvor mache ich mir das mitgeführte und vorgekochte Essen warm - ein Zusatzgewicht von ca. 2 kg, auf das die anderen verzichtet hatten. Aber egal. Es schmeckt herrlich. Um halb zwei Uhr krieche ich ins Zelt und schlafe ermattet ein.

Als ich um 6 Uhr morgens meinen Kopf heraus strecke, ist Réné bereits weg. Gegen sieben rolle ich ohne Frühstück weiter. Um 8 proviantiere ich - es gibt Waffeln, die auf dem Rad verzehrt werden. Der Wind ist frisch und kommt heute unentwegt von vorne. Die Beine funktionieren. Schwieriger ist‘ s mit dem Hintern - dieser tut mir weh. Vor Greifswald dann ein 30 km langer, gröberer Kopfsteinplasterabschnitt. Ich fahre es fast komplett im Stehen, da ich Angst habe, dass die Vibrationen und Stöße meinen wunden Hintern vollends aufreißen lassen. In Greifswald gönne ich mir um 13 Uhr an einem Friedhof in der wärmenden Sonne eine ausgiebige Frühstückspause mit dem ersten Kaffee des Tages. Etwas über 100 km habe ich geschafft. Bei einem jämmerlichen Schnitt von ca. 20 km/h. Eine Panne hatte ich aufgrund eines Durchschlags. Allein, konstant gegen den Wind, mit schmerzendem Hintern. Vor und hinter mir ist niemand, wie ich auf der Trackingseite der Veranstaltung sehen kann. Die, die vor mir sind, sind die, die gestern weitergefahren oder die Nacht durchgefahren sind. Viele sind es nicht.

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Später, auf der Halbinsel Usedom sind es noch 190 km, als mich, wie ich von einer Toilette einer Kuranlage komme, ein Fahrer überholt. Heureka! Der erste Fahrer dieses Tages. Ich hole ihn ein. Andreas aus Nürnberg ist ohne Zelt und Schlafsack unterwegs. Er ist auf eine Herberge angewiesen und möchte daher bis nach Stettin durchziehen. Ich weiße ihn darauf hin, dass es bereits 18 Uhr sei und die Entfernung noch immens. Ja, mit Ankunft drei Uhr nachts habe er kalkuliert, kommt die Antwort. Und das seien auch nur zwei Stunden mehr, als ich letzte Nacht gefahren bin. Ich bin hin und hergerissen, sehe aber die Chance. Der Wind hat gedreht, steht jetzt gut und wir rollen mit einem ordentlichen Speed über die wellige Inselgegend. Herrlich, wieder einen Mitfahrer zu haben. Nach Usedom ändert sich die Streckenführung jedoch wieder ins Landesinnere gegen Westen und wir haben erneut den Wind von vorne, der jetzt zudem deutlich zugelegt hat. Außerdem geht es wieder vermehrt über alte Ackerwege, Wälder und Sandpisten. Das macht uns extrem langsam. Aber wir machen unbeirrt weiter, noch drehen die Beine die Pedale. Bei Anklam endlich dreht sich wieder die Stecke und wir haben den mittlerweile sehr starken Wind von hinten. Das wird uns retten, denke ich, denn es sind noch über 100 km und die Nacht ist schon über uns.
Andreas‘ Rad ist in keinem guten Zustand, eine seiner Ortliebtasche löst sich ständig und schleift am Vorderrad. Um die unnötigen Stopps zu vermeiden, gebe ich ihm einen Packriemen, um das Teil festzuzurren. Später müssen wir seinen lose gewordenen Triathlon Aufsatz befestigen, da daran seine Lampe sitzt, die nervig auf- und abhüpft, als wir über die nie enden wollenden Betonplatten im Osten Deutschlands fahren. Zudem müssen wir um 20 Uhr feststellen, dass im Städtchen Usedom schon um 18 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt und der Netto geschlossen werden. Um die Gefahr eines Hungerasts mitten im Nirgendwo zu vermeiden, nehmen wir einen Umweg in Kauf und proviantieren Schokoriegel an der einzigen Tankstelle in Anklam. Andreas, der vorher schon etwas wortkarg war, ist jetzt müde, keiner von uns redet mehr. Ich gehe nach vorne und ziehe ihn bis nach Stettin. Ich hab mit ihm vereinbart, dass wir gegenseitig auf uns warten und im Notfall helfen. Wir sind im Wald unterwegs und haben seit Anklam keine Menschenseele mehr gesehen. Lediglich Tiere tauchen im Scheinwerferlicht auf - Dachse, Füchse, Rehe. Einmal springt nur wenige Meter vor mir eines davon aus dem Unterholz und sprintet über die Straße. Das Tier ist groß, muskulös und sein explosiver Antritt hätte mich bestenfalls mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus befördert, wäre unser Timing ein wenig schlechter gewesen.Hin und wieder rollen wir durch kleine Dörfer, aber die sind wie ausgestorben, gerade gespenstisch.

Als wir gegen drei Uhr nachts die polnische Grenze queren, kommt endlich das angesagte Ungewitter über uns. Es sind noch 20 km bis zum Ziel. Die ersten Tropfen gehen fast schlagartig in Starkregen über. Andreas hat Regenkleidung - ich nur meine einigermaßen dichte Windjacke. Ich ziehe fast alles an, was ich habe. Als wir weiterfahren drücke ich jetzt stark, trotz des zunehmenden Druckgefühls im Knie und für Andreas eigentlich zu schnell, aber ich bin schon durch das Umziehen ausgekühlt und der Regen dringt durch meine 5 Lagen schneller durch als ich dachte. Der Track führt uns jetzt über feste Straßen, allerdings sind die so schlecht und voller Wasser, dass es unmöglich wird, eine Pfütze von einem Schlagloch zu unterscheiden. Bloß kein Durchschlag, hoffe ich bei jeder Pfütze, eine Panne überlebe ich jetzt nicht. Aber wir schaffen es. Um 03:57 erreichen wir nach 343 km und fast 16 h Fahrzeit das Hotel, in dem das Buch liegt, in das wir unseren Finish eintragen. Es sind nur 8 Fahrer vor uns angekommen, von fast 200 gestarteten. Und das Hotel hat noch Zimmer frei. Ich zahle bereitwillig, wünsche Andreas eine gute Nacht und schleppe mich nach oben. Vor dem Spiegel erschrecke ich mich - meine Augen sind tiefliegend und rot, das Gesicht hohlwangig und mein schmerzender Körper sieht anorektisch aus. Ich dusche ausgiebig, koche mir eine mitgebrachte Ration Reis-Gemüse, die ich gierig verschlinge und falle um 5 Uhr ins Bett. Was ein Ritt. Aber Körper und Rad haben gehalten. 3-4 Tage hatte ich geplant und habe es an 2 geschafft und habe wahrlich nette Leute kennen gelernt. Ich bin stolz und begeistert, was ich zu leisten im Stande bin.

The ride by the numbers:
608 km, 2.579 hm, 42 h Dauer, davon 27,4 h im Sattel. Fast alles Offroad.

Bericht: Per